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Beitrag vom 14.05.2013
Der Internationale Frauentag in Istanbul
Charlotte Binder
Der kulturwissenschaftliche Vergleich des Internationalen Frauentags in Berlin 2012 und Istanbul 2013 ist Untersuchungsgegenstand des Promotionsprojektes unserer Gastautorin Charlotte Binder.
Im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Dissertation vergleiche ich Aktivitäten und Debatten zum Internationalen Frauentag in Berlin 2012 und in Istanbul 2013 und untersuche damit, welche Bedeutungen dieser Jahrestag für Frauen- und Geschlechterpolitiken in Deutschland und in der Türkei heute einnimmt.
Dieser Artikel beschreibt welche Bündnisse und Organisationen Veranstaltungen durchführten und welche Themen, Forderungen und Debatten in der Türkei anlässlich des Weltfrauentags 2013 verhandelt wurden.
Geschichtlicher Abriss
Der Tag wird heute in der Türkei auch mit 8 Mart (8. März), Dünya Kadınlar Günü (Weltfrauentag) oder auch Uluslararası Emekçi Kadınlar Günü (Internationaler Arbeiterinnentag) bezeichnet. Bis in die 1970er Jahre wurde der Tag ausschließlich Dünya Emekçi Kadınlar Günü (Weltarbeiterinnentag) genannt und verweist auf die kommunistischen Wurzeln des Frauentags in der Türkei.
Historische Quellen belegen, dass der Internationale Frauentag in der Türkei von Frauen der Türkischen Kommunistischen Partei (TKP) in Ankara 1921 das erste Mal im Untergrund gefeiert wurde. Erst 1975 feierte die Fortschrittliche Frauenvereinigung, die meist aus (ehemaligen) Mitgliedern der TKP bestand, erstmalig in der Öffentlichkeit wieder den 8. März.
Im Zuge des Militärputschs von 1980 wurde das Begehen des Frauentags zunächst verboten. Erst seit 1984 feierten die Linke und die aufkommende feministische Bewegung - zunächst meist getrennt - den 8. März. Initiiert von der feministischen Zeitschrift Pazartesi mit dem Slogan "Jetzt organisiert!" wurde 1997 die erste große gemeinsame Aktion von Sozialistinnen, der kurdischen Frauenbewegung und Feministinnen anlässlich des Weltfrauentags veranstaltet.
Bündnisse und Veranstaltungen zum 8 Mart
Auch in diesem Jahr hat das 8. März Frauenbündnis, bestehend aus Gewerkschafterinnen, Politikerinnen, Sozialistinnen, Kurdinnen, Feministinnen und/oder LGBT-Aktivist_innen anlässlich des Internationalen Frauentags am 10. März einen Demonstrationszug und ein Frauenfest, an dem rund 10 000 Frauen teilnahmen, im Istanbuler Stadtbezirk Kadıköy organisiert. Mehr als 35 Gruppen, unterteilt in autonome Frauenorganisationen, demokratische Massenorganisationen, Arbeits- und Berufsorganisationen, Zeitschriften sowie Frauen von politischen Parteien, präsentierten sich und ihre jeweiligen Forderungen in Form eines Festumzugs. Geprägt war die Veranstaltung insbesondere von kurdischen Frauen, die in der kurdisch-linken Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) und/oder der kurdischen Frauenbewegung (DÖKH) organisiert sind und anlässlich des 8. März häufig traditionelle, kurdische Festtagskleidung tragen. Auf dem anschließenden Fest wurden die Teilnehmerinnen in den Sprachen armenisch, lasisch, homschezi, zazaki, kurdisch, arabisch, türkisch und pontisch begrüßt und zum Internationalen Frauentag beglückwünscht. Nach der Erklärung des 8. März Frauenbündnisses, die auf türkisch und kurdisch verlesen wurde, folgten Reden von der DÖKH/BDP-Parlamentsabgeordneten Sabahat Tuncel, von der Trans*Feministin Şevval Kılıç, von den streikenden Arbeiterinnen des Atatürk Flughafens sowie von einer Sprecherin des universitären Frauenkollektivs. Im Anschluss daran traten Musikgruppen auf und die Zuschauerinnen tanzten zusammen den traditionellen anatolischen Volkstanz halay.
Anlässlich der im März 2013 intensiv geführten Friedensverhandlungen zwischen dem inhaftierten PKK-Führer Abduallah Öcalan und der türkischen Regierung sowie der großen Beteiligung von Kurdinnen an der 8. März Veranstaltung wurden unter dem gemeinsamen Slogan "Wir organisieren uns widersständig gegen geschlechtliche Diskriminierung, gegen Krieg, gegen Armut, gegen Gewalt an Frauen und gegen die Ausbeutung unserer Arbeitskraft!" insbesondere auch die Beteiligung von Frauen am Friedensprozess, die Aufklärung der drei in Paris ermordeten kurdischen Aktivistinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez sowie die Freilassung der kurdischen politischen Gefangenen gefordert.
Einen Tag zuvor veranstaltete das Revolutionäre 8. März Bündnis eine Demonstration ebenfalls in Kadıköy an der sich auch Männer beteiligen konnten. Mit ihrer Forderung "Der 8. März ist rot und wird rot bleiben!" kritisierte dieses aus sieben sozialistischen Gruppen bestehende Bündnis den Feminismus als reformistische, bürgerliche Ideologie und betonte den gemeinsamen Kampf von Frauen und Männern gegen das kapitalistische System.
Seit 2003 organisiert das Feministische Kollektiv Istanbul jedes Jahr am Abend des 8. März im Stadtteil Beyoğlu auf der Haupteinkaufsmeile İstiklal Caddesi den sogenannten Nachtmarsch, der dieses Jahr von mehreren hundert Feministinnen besucht wurde. Mit dem Slogan des Frontbanners "Unser Körper, unser Leben, unsere Entscheidung, eure Familie soll eure sein!" wurde insbesondere die Regierungspolitik der muslimisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) kritisiert, die anstatt Frauen- und Geschlechterpolitik eine konservative Familienpolitik vorantreibe. Die Feministinnen riefen am 8. März - dem Kampf- und Solidaritätstag der Frauen - zu einem feministischen Aufstand gegen Patriarchat, Heterosexismus, Homophobie, Kapitalismus, Nationalismus, Militarismus und Krieg auf.
Daneben haben im Rahmen Internationaler Frauentag rund 200 weitere Veranstaltungen in Istanbul - in Form von Demonstrationen, Protestkundgebungen, Kampagnen, Presseerklärungen, Preisverleihungen, Diskussionsveranstaltungen, Vorträgen und Seminaren, Korankursen für Frauen, Informationsständen, Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen, Frauenfesten, Versammlungen, Kunst- und Kulturveranstaltungen und/oder Blumenverteilaktionen - stattgefunden.
Bedeutungen des Internationalen Frauentags in der Türkei
Vergleichbar mit dem Valentins- oder Muttertag werden anlässlich des 8. März in der heutigen Türkei Frauen häufig Blumen geschenkt und kommerzielle Angebote unterbreitet. Aktivistinnen kritisieren deshalb auch die Kommerzialisierung und Entpolitisierung des Frauentags und fordern eine radikale Wiederaneignung des Jahrestags mittels feministischer und/oder sozialistischer Forderungen. Kritisiert wird auch, dass der Staat, Istanbuler Bezirksverwaltungen, Gewerkschaften oder auch linken Organisationen zwar im Rahmen 8. März eine Veranstaltung durchführen, sich das restliche Jahr jedoch nicht für frauen- und geschlechterpolitische Forderungen einsetzen würden.
An den drei Bündnisveranstaltungen in Istanbul nahmen 2013 insgesamt zehntausende von Frauen teil und formulierten öffentlichkeitswirksam gemeinsame Forderungen. Auch außerhalb der 15-Millionenmetropole, insbesondere in den kurdischen Gebieten der Türkei, sind die Veranstaltungen regelrechte Volksfeste und können als Ausdruck einer pluralistischen Bewegung gelesen werden. Aufgrund der unterschiedlichen Herkunftsmythen des Frauentags ist der Tag anschlussfähig für Gruppen mit unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung sowie für wenig politisierte Frauen.
Innerhalb der frauen- und geschlechterpolitischen Bewegungsszene in Istanbul wird jedoch auch diskutiert, ob eine gemeinsame Politik bei zum Teil stark voneinander abweichenden Ideologien und Zielvorstellungen und mit der umstrittenen Kategorie ´Frau´ überhaupt möglich sei. Die Debatten drehen sich insbesondere um das Subjekt von Frauen- und Geschlechterpolitiken: Wem gehört der 8. März? Welche ´Frauen´ sind am Internationalen Frauentag hör- und sichtbar und wer bestimmt darüber wer überhaupt teilnehmen darf? So sind bei den drei Bündnissen muslimische Frauen(bewegungen) sowie kemalistische Frauen(bewegungen) und ihre Anliegen zum Beispiel kaum hör- oder sichtbar.
Dennoch bin ich überzeugt, dass insbesondere das 8. März Frauenbündnis einen Ort der Begegnung und Kommunikation zwischen den verschiedenen Organisationen darstellen kann, der auch außerhalb des Frauentags zur Mobilisierung bezüglich bestimmter Frauenthemen genutzt werden kann. Dialog und gemeinsames Handeln - bei gleichzeitiger Reflektion von Differenzen und Machtverhältnissen innerhalb der Bewegungen - scheint in Zeiten eines religiös-konservativen Umbruchs in der Türkei, von dem vor allem auch Frauen und ihre Wahlfreiheiten negativ betroffen sind, besonders notwendig zu sein.
Informationen zur Autorin: Charlotte Binder ist Gastautorin von AVIVA-Berlin. Seit Juni 2011 promoviert sie an der Universität Bremen zum Thema Frauen- und Geschlechterpolitiken in Deutschland und der Türkei. Ihr Forschungsaufenthalt in der Türkei wird durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst mit einem Dissertationsstipendium gefördert.
Weitere Informationen finden Sie unter:
Weblog von Amargi Istanbul (englisch)
Aktuelle Statistiken zur Situation der Frau in der Türkei, zusammengestellt von der Frauen-NGO KA.DER: Kadin İstatistikleri 2012-2013 (türkisch)
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Beobachtungen zum Internationalen Frauentag 2012
Die feministische Bewegung in der Türkei. Ein Erfahrungsbericht von Gastautorin Charlotte Binder